2010 bis 2019

Strategische Nachhaltigkeit

«Diese Woche haben 24 Jugendliche aus Kenia, Polen, den USA und der Schweiz im Rahmen des Jugendsolarprojekts von Greenpeace eine 160 m2 grosse Photovoltaik-Anlage und eine 60 m2 grosse thermische Solaranlage auf die Jugendherberge St. Moritz installiert.»[1]

Mehrwerte durch Partnerschaften

Der Begriff «Nachhaltigkeit» wird aber noch viel weiter gefasst. Dazu gehören neben der Umweltverträglichkeit auch die drei gleichberechtigten Standbeine soziale Verantwortung, Wirtschaftlichkeit und «Governance». Damit sind die SJH, wie sie kurz heissen, am Puls der Zeit und etablieren sich als Nonprofit-Organisation auf einer Gratwanderung zwischen dem Erreichen sozialer Ziele und der unbedingt erforderlichen Rentabilität.

Aus der Sonne umweltfreundliche Energie gewinnen und Jugendliche für Klimafragen sensibilisieren: Eine Kombination, die zu den Grundsätzen der Jugendherbergen passt. Schon in Grindelwald hat eine Schulklasse eine Solaranlage montiert. Anspruch und finanzielle Realität sind aber nicht immer einfach unter einen Hut zu bringen. Für die nötigen Umbauten gibt es keine grossen Budgets und in erster Linie müssen die Gemeinschaftsräume und die Zimmer aufgewertet werden. Aus Geldmangel ist es nicht immer einfach dem Energiebereich den nötigen Stellenwert einzuräumen.

Als Teil von Hostelling International, dem weltweiten Netz von Jugendherbergen, ist es aber auch den Jugendherbergen in der Schweiz wichtig, auf allen Ebenen umweltgerechte Leistungen anzubieten. Es gilt die Prämisse, ressourcenschonend zu haushalten – das ist Teil der Geschichte seit der Gründung 1924. Dazu gehört auch der Glaube an die eigene Strahlkraft. Mit ihrer Nachhaltigkeitsstrategie wollen die Schweizer Jugendherbergen für die Schweizer Tourismusbranche eine Vorbildwirkung haben und andere dazu motivieren, diesen Weg ebenfalls zu wählen.

Die Anstrengungen kommen auch den Standortgemeinden zugute. Die aus der Photovoltaik-Anlage St. Moritz gewonnene Solarenergie liefert jährlich bis zu fast 27’000 Kilowattstunden erneuerbaren Strom. Umgerechnet kann damit der Jahresbedarf von sechs 4-Personen-Haushalten oder ein Sechstel des Stromverbrauchs der St. Moritzer Jugendherberge abgedeckt werden. Diese nachhaltige Energiegewinnung ist ein wichtiger Bestandteil des Energiestadt-Labels des Engadiner Kurorts.[1]

 

 

Jugendherberge St. Moritz (2010)

Bild: SJH-Archiv

Jugendherberge St. Moritz (2011)

Bild: SJH-Archiv, Michel van Grondel

Die Jugi wirklich für alle
Die Nachhaltigkeitsstrategie der Schweizer Jugendherbergen und der Schweizerischen Stiftung für Sozialtourismus will aber weiter gefasst sein: Im Rahmen der sozialen Verantwortung sollen Reisen für Menschen mit bescheideneren finanziellen Mitteln möglich sein. Mit dem 2012 initiierten Pionierprojekt «Hindernisfreie Jugendherbergen» streben der Verein Schweizer Jugendherbergen und die Schweizerische Stiftung für Sozialtourismus zusammen mit der Stiftung Denk an mich barrierefreie «Ferien zugänglich für alle» an. Zur echten Inklusion gehören nicht nur bauliche Massnahmen, sondern beispielsweise auch ein Buchungssystem für das hindernisfreie Angebot. Bis zum hundertjährigen Bestehen sind insgesamt 34 der 49 Jugendherbergen barrierefrei. Das 2018 erfolgreich abgeschlossene Projekt regt die Gründung des Fördervereins Barrierefreie Schweiz FVBS an, der nun barrierefreie Massnahmen in der gesamten Schweizer Tourismusbranche voranbringen will.[2]

Zum traditionellen Angebot der Jugendherbergen gehört auch die Verpflegung der Gäste. Sie sollen sich ausgewogen mit fair produzierten Produkten ernähren können. «Ich bin so gerne in den Jugendherbergen, weil ich einfach weiss, dass dort alles stimmt. Das Essen ist nicht nur gut, sondern auch aus meiner ökologischen Warte in Ordnung; im ganzen Haus sind nur unbedenkliche Materialien verbaut und die Mitarbeitenden werden anständig behandelt. Das finde ich ziemlich entspannend», sagt eine Besucherin, die mit ihrer Familie regelmässig – und überall auf der Welt – in «Youth Hostels» absteigt.[3]

Nachhaltig zu wirtschaften ist für die Schweizer Jugendherbergen seit Anbeginn zentral. Heute ist das «Wording» etwas anders als vor 100 Jahren, aber das Ziel ist eigentlich dasselbe: «Wir wollen weiterhin eine grösstmögliche Wirtschaftlichkeit unter Berücksichtigung unserer Werte und Ziele erreichen. Wir sind besorgt um ausreichende Liquidität, angemessene Reserven und eine gesunde Kapitalstruktur. Dies dient der Existenzsicherung und der Fähigkeit, die zivilgesellschaftlichen Ziele langfristig zu erfüllen.​»[4] Was bedeutet, dass die Zahlen stimmen müssen, aber ohne Profitdenken, sondern in der Balance mit sozialer Verantwortung. Diese können die Schweizer Jugendherbergen aber nur wahrnehmen, wenn die nötige Unterstützung da ist, sei es von Mitgliedern, Gönner*innen oder der öffentlichen Hand. Als viertes Standbein zur Nachhaltigkeitsstrategie wurde die «Governance» definiert: Damit soll ein echter Mehrwert geschaffen werden.[5]

 

 

wellnessHostel4000 Saas-Fee (2019)

Bild: SJH-Archiv

Jugendherberge Basel (2013)

Bild: SJH-Archiv

Das Schaffen von Mehrwerten durch Partnerschaften
Was 1997 in Locarno mit der ersten multifunktionalen Jugendherberge seinen Anfang nahm, fand mit der Public-Private-Partnerschaft in Saas-Fee seine gelungene Fortsetzung: Das Schaffen von Mehrwerten durch Partnerschaften. Das im Herbst 2014 eröffnete wellnessHostel4000 in der Alpendestination ist eine Public-Private-Partnerschaft zwischen der Schweizerischen Stiftung für Sozialtourismus und der Burgergemeinde Saas-Fee. Die Schweizer Jugendherbergen haben nach jahrelanger erfolgloser Suche in der Tourismusregion Saas-Fee einen Standort für einen Neubau gefunden und die Burgergemeinde Saas-Fee hatte gleichzeitig die Möglichkeit, das defizitäre Freizeitzentrum in eine professionell geführte und betriebene Wellnessanlage mit Hallenbad zu überführen. Die Anlage kommt allen Gästen der Destination wie auch Einheimischen zugute. Aus der Partnerschaft resultierte eine touristische Weltneuheit: Das erste Hostel mit eigenem Wellnessangebot sowie einem eigenen Hallenbad. Als erster moderner, 5-geschossiger Hotelbau in Holz nach Minergie-Eco-Standard erbaut und mit solarer Fernwärme und Photovoltaik energetisch versorgt, ist der Bau zudem als Leuchtturm für umweltgerechtes Bauen in den Alpen mehrfach ausgezeichnet worden (Prix Lignum, Watt d’Or, Milestone). Im Dezember 2020 wurde das wellnessHostel3000 in Laax eröffnet, welches auf einer Public-Privat-Partnerschaft mit der Gemeinde Laax basiert. 2022 ergänzte das WellnessHostel St-Luc als Franchisebetrieb das Angebot der Schweizer Jugendherbergen.

 

 

[1] Zit. aus Medienmitteilung von Greenpeace Schweiz vom 14. Juli 2010.

[2] Vgl. denkanmich.ch/jugendherbergen

[3] Interne Info: Das hat mir heute in ungefähr diesen Worten jemand an einer Tagung für nachhaltiges Bauen erzählt … und dann noch der Zusatz ECO, der das Tüpfelchen auf dem i vieler JH ist.

[4] Zit. nach www.youthhostel.ch/de/nachhaltigkeit/strategie/

[5] Vgl. www.youthhostel.ch/de/nachhaltigkeit/strategie/

100 Jahre Schweizer Jugendherbergen

  • 1900 bis 1924: Vorgeschichte

    Freizeit und Geld haben viele Jugendliche kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert kaum. Gemeinschaftliches Wandern, Singen und Tanzen in der freien Natur bieten eine günstige Unterhaltungsmöglichkeit, unabhängig des Daseins von Erwachsenen.

  • 1924 bis 1932: Gründungsjahre

    Nach dem Ersten Weltkrieg begeistert sich die Jugend zunehmend für das Wandern unter ihresgleichen. Eltern und Lehrerschaft sind besorgt: Zerreissen die Familienbande, geht die Autorität verloren, lässt der Arbeitswille nach?

  • 1930 bis 1938: Wirtschaftskrise, geistige Landesverteidigung, Faschismus

    Die 1930er-Jahre sind geprägt von Arbeitslosigkeit, Angst vor einem Krieg und der geistigen Landesverteidigung. Trotzdem erweitern die Jugendherbergen ihr Netz und trotzen der wirtschaftlichen Realität, manchmal mit viel Glück, manchmal mit Wagemut.

  • 1939 bis 1947: Kriegszeit und Wiederaufbau

    Mit dem Kriegsausbruch im Sommer 1938 bricht bei den Jugendherbergen der Besucheransturm zusammen. Anstatt junge Gäste aus dem Ausland schlafen nun Soldaten im Aktivdienst in den Massenschlägen.

  • 1947 bis 1959: Erholung und Professionalisierung

    Nach dem Krieg erholt sich die Welt langsam wieder und der internationale Austausch wird erneut aufgenommen. Nach dem grossen Wachstum bis 1938 nimmt die Zahl der Jugendherbergen stetig ab.

  • 1960 bis 1970: Aufbruch der Jugend

    Die Sechzigerjahre sind geprägt vom wirtschaftlichen Aufschwung und mehr Freiheit suchender Jugendlicher. Die Jugendherbergen sehen sich erstmals einem Konkurrenzdruck ausgesetzt.

  • 1970 bis 1980: Backpacker*innen entdecken die Schweiz

    Nun können sich auch Junge Fernreisen leisten, alles wird günstiger, fast alle haben genügend Arbeit: Die Welt scheint allen offen zu stehen, vor allem den US-Boys und Canadian Girls.

  • 1980 bis 1990: Erforschung des Jugendtourismus

    Auf der Suche nach Sponsoring treten Imagefragen in den Vordergrund. Gehen die Jugendherbergen noch mit der Zeit und was halten die potenziellen Gäste von ihnen?

  • 1990 bis 1999: Umstrukturierung und Neuausrichtung

    Die Schweizer Jugendherbergen müssen sich in der globalisierten Welt zurechtfinden und sind dem Wettbewerb und neu sensibilisierten Gästen aus aller Welt ausgesetzt. Finanziell wird es eng.

  • 2000 bis 2010: Neupositionierung und Imagekorrektur

    Wer kennt die Schweizer Jugendherbergen nicht? Kaum jemand. Jeder dritte Schweizer, jede dritte Schweizerin weiss, von wem die Rede ist, wenn sie auf die «Jugis» angesprochen werden. Sie sind ein nationales Symbol.

  • 2010 bis 2019: Strategische Nachhaltigkeit

    Ab dem Jahr 2010 ernten die Jugendherbergen Sonne vom Dach. Im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie der Schweizer Jugendherbergen werden ab dem zweiten Jahrzehnt der 2000er-Jahre zahlreiche Projekte im Bereich erneuerbare Energien umgesetzt.

  • Ab 2020: Pandemiejahre und Neustart

    2020 / 2021 bringt die COVID-19-Pandemie die internationale Reisetätigkeit fast vollständig zum Erliegen. Kontakt-, Schul- und Gruppenreiseverbote innerhalb der Schweiz bringen die Schweizer Jugendherbergen an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit.