1930 bis 1938

Die Schweizer Jugendherbergen im Zeichen der Wirtschaftskrise, der geistigen Landesverteidigung und des Faschismus

«Ein guter Rat für junge Leute, die mit ihren Ferienplänen nicht fertig werden oder keine zu machen wagen, ‹weil's zu teuer kommt›: Die Genossenschaft für Jugendherbergen Zürich verwaltet im Toggenburg ein lustiges Ferienheim, 1 1/2 Stunden über Ebnat-Kappel, in einer weiten, freien Ausruhlandschaft mit rassigen Tourenmöglichkeiten: Die Jugendherberge ‹Bendeli›. Das Bendeli ist etwas Besonderes: Gemütliche Stuben, gute Betten und ein freundliches Hausmüetti, das volle Pension zu Fr. 3.50 im Tag abgibt. Das Hausmüetti heisst Fräulein Siebenhühner und nimmt mit Freude Anfragen und Anmeldungen von jugendlichen Ferienhungrigen entgegen. Adresse: Jugendferienheim Bendeli ob Ebnat-Kappel, Toggenburg. Jetzt darf man ruhig Ferienpläne machen: Das Bendeli erfüllt alle Wünsche.»[1]

Die Jugend geht in die Jugi. Zum Beispiel zu Hausmutter Siebenhühner ins Toggenburg

Die Gastgeberin Siebenhühner hat alle Hände voll zu tun. Die 1926 vom Zürcher Kreis eröffnete Herberge im Kanton St. Gallen erfreut sich grosser Beliebtheit. Die begeisternden Berichte erreichen offensichtlich eine riesige Zahl von Jugendlichen, die – so scheint es fast – alle in Ebnat-Kappel und anderen Jugendherbergen übernachten wollen. In der Zeit von 1926 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1938 steigen die Übernachtungs- und Besuchendenzahlen in schwindelerregende Höhen. Listet der Jahresbericht 1926 noch 5000 Besuchende in den 80 Häusern auf und 1930 bereits fast 40'000 in 126 Herbergen, so sind es 1938 105’000 bei rund 168’000 Übernachtungen. 1938 ist dann auch der Peak mit 208 Jugendherbergen erreicht; in den Folgejahren reduziert sich die Zahl laufend. In den aktuellen Jubiläumsjahren sind es noch rund 50 Jugendherbergen, allerdings mit fast 440'000 Besuchenden und rund 880'000 Übernachtungen im Jahr 2023.

 

 

Gemeinsames Kochen, Peter Heer (1938)

Bild: SJH-Archiv

Essraum in Zernez, Georges Bouchard (1938)

Bild: SJH-Archiv

Bei der Gründung 1924 wurde vereinbart, dass der Anteil ausländischer Gäste die 50 Prozent-Marke nicht übersteigen soll. Diese Angst ist lange unbegründet. In den ersten Jahren sank die Zahl der Inlandbesucher*innen nie unter 80 Prozent. In den Kriegsjahren wurden – unfreiwillig – fast 100 Prozent erreicht. Erst als die Reisemöglichkeiten ab 1947 wieder besser werden, verschieben sich die Zahlen zunehmend und pendeln sich in den zwanzig Jahren von 1970 bis 1990 bei rund zwei Drittel internationaler Gäste ein, um dann um die Jahrtausendwende das ursprünglich angestrebte Ziel wieder zu erreichen. In den zwei Pandemie-Jahren (2020 und 2021) sind die Jugendherbergen wieder wie zu Beginn zu über drei Vierteln von Schweizerinnen und Schweizern belegt.

Wunschdenken und wirtschaftliche Realität
Der Wunsch nach mehr Übernachtungsmöglichkeiten und die Erschliessung neuer Landesgegenden geht nicht immer mit den finanziellen Möglichkeiten einher. Die Weltwirtschaftskrise erfasst allmählich auch die Schweiz, ab 1931 steigt die Arbeitslosigkeit kontinuierlich an und erreicht 1936 ihren Höhepunkt mit einer Quote im Januar von 6,4 Prozent, was rund 124’000 Stellensuchenden entspricht. Erst mit dem Kriegsbeginn sinkt die Zahl wieder. Im Tourismusbereich hat es kaum noch ausländische Gäste, da es den umliegenden Ländern bedeutend schlechter geht als der Schweiz. Die Gästezahlen der Jugendherbergen steigen aber trotzdem weiter an. Der Berner Verein kann sich nun endlich leisten, ein Vorstandsmitglied auf eine Reko-Tour zu entsenden. Marthe Aebischer reist zwei Wochen durch das Wallis und kommt mit einer Liste von zehn Jugendherbergen im Gepäck zurück. Dazu gehören Les Hudères, wo es bis in die 1980er-Jahre eine Jugendherberge gibt und Champex, welche erst in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre im Zuge der Reorganisation wieder schliesst.[2]

 

 

Stube, Rohrschach (1937)

Bild: SJH-Archiv

Stube Amden, M. Beyer (1936)

Bild: SJH-Archiv

Der Traum vom Eigenheim
Der Zürcher Verein träumt derweil von einer eigenen Jugendherberge, die er von Grund auf planen kann. Eine grossartige Aussicht soll sie haben und ein Herbergselternpaar.[3] Im Oktober 1931 kommt es zu einem kleinen Wunder: Ein spendabler Gönner schenkt der Genossenschaft ein Stück Land samt Plan für ein Haus in der Lenzerheide. 25’000 Franken wird das fertige Gebäude voraussichtlich kosten, wobei das Fundament schon erstellt ist. Die Gegend ist aber so weit abgelegen, dass in die Jugendherberge gleich auch noch eine Wohnung für das Leiterpaar Mohler gebaut werden muss. Nachdem ein paar Uneinigkeiten mit Einheimischen geklärt sind, geht der Bau zügig voran und am 1. Oktober 1932 wird das erste «Eigenheim» des Zürcher Kreises eingeweiht. Arbeitslose Jugendliche haben die Wasserleitungen gebaut, Planierungsarbeiten übernommen und einen Spielplatz errichtet. Die Abgeschiedenheit des Tuffsteingebäudes mit Aussicht auf das Bergpanorama und den Heidsee hat aber ihre Tücken. Beim Lebensmitteltransport muss ein Neufundländerhund, den die Mohlers im Winter vor einen Schlitten und im Sommer vor einen Leiterwagen spannen können, helfen.[4] In den Kriegsjahren kämpft das Ehepaar Mohler nicht nur mit den langen Wegen, sondern auch mit der Lebensmittelrationierung ab Ende August 1939.[5]

 

 

Jugendherberge Valbella-Lenzerheide (1932)

Bild: SJH-Archiv

Da nicht alle Jugendlichen von Zürich aus in ihrer oft knappen Freizeit den langen Weg in die Lenzerheide auf sich nehmen können, wird der Greifensee ins Visier genommen. Zu einem günstigen Preis verkauft Bauer Meier – «bei süssem Most» – im damals noch ländlich geprägten Fällanden ein Stück Land. Im Krisenjahr 1936 können Arbeitsbeschaffungskredite organisiert werden, aus denen ein Drittel der Baukosten beglichen werden können. Jugendliche Arbeitslose zimmern in Arbeitslagern einen Teil des Mobiliars und helfen beim Bau des vom angesehenen Architekten Emil Roth geplanten Gebäudes.[6] Massenlager und eine ausgeklügelte Geschlechtertrennung machen den Bau zu einem Vorzeigeobjekt.[7] Am 6. Juni 1937 wird die «Wunschherberge» eingeweiht, wie sie Jahre vorher schon erträumt und von Getrud Honegger fast eins zu eins beschrieben worden ist. Ein schlichtes, funktionelles, der Moderne verpflichtetes Gebäude ohne Schnickschnack.

 

 

Jugendherberge Fällanden (1937)

Bild: SJH-Archiv

Jugendherberge Fällanden, Einweihung (1937)

Bild: SJH-Archiv

Früher als die umtriebigen Zürcher*innen kauft der Kreis Luzern 1930 wagemutig ein eigenes Haus an bester Lage, das Jugendferienheim Rotschuo zwischen Vitznau und Gersau am Vierwaldstättersee. Die Innerschweizer Jugendherbergen können ihr Glück kaum fassen: «Man darf es ja schon sagen: wenn nicht die Weltkrisis im Jahre 1930 den Drohfinger erhoben hätte, so wäre von Hertenstein bis Gersau wohl die ganze Vierwaldstättersee-Riviera von Privaten restlos besetzt worden.»[8] Unter dem Eindruck der Krise in Europa betonen sie, wie wichtig es ist, etwas für die die junge Generation zu tun: «Gerade in unserer heutigen zerrissenen Zeit liegt eine grosse Bedeutung darin, dass die Jugend zur eigenen Scholle zurückgeführt wird und wir möchten gerade im ‘Rotschuo’ die eigene Gemüsegärtnerei und auch den Stall mit den drei Kühen nicht missen.»[9]

 

 

Jugendherberge Rotschuo (1940)

Bild: Code 1991.396, ©Marie Ottomann-Rothacher, Fotostiftung Schweiz

Jugendherberge Rotschuo (1940)

Bild: Code 1991.392, ©Marie Ottomann-Rothacher, Fotostiftung Schweiz

Ab Mitte der 1930er-Jahre breitet sich in der Schweiz die Angst vor einem Krieg aus. Im Angesicht der Bedrohung der Schweiz durch das nationalsozialistische Deutschland wird die Idee der Geistigen Landesverteidigung[10] immer zentraler. Politische und intellektuelle Kreise sowie die Medien fordern Massnahmen zur Stärkung der kulturellen Grundwerte der Schweiz. Das Land soll sich über die Sprachgrenzen, unterschiedliche sozialen Gruppen und Parteienzwist hinweg zusammenraufen. Auch von den Jugendlichen wird verlangt, dass sie gute Staatsbürger*innen sind und ihre Heimat lieben, die «Scholle» schätzen, wie sie in der Jugendherberge Rotschuo gepflegt wird.  

Schon bei der Gründung betonen die Schweizer Jugendherbergen, dass sie politisch und konfessionell unabhängig sind. Dem Friedensgedanken und dem internationalen Zusammenhalt steht das nicht im Wege. So finden auch, als 1936 der Spanienkrieg des faschistischen Franco-Regimes ausbricht, spanische Kinder in einer Jugendherberge Unterschlupf. Das Schweizerische Arbeiter­hilfswerk SAH holt sie aus dem Kriegsgebiet zur Erholung in die Schweiz und betreut sie. [11]

 

 

Spanienkinder-Aktion des Schweizerischen Arbeiterhilfwerks (SAH); Gruppenfoto vor einer Jugendherberge (1936)

Bild: F Fa-0012-024, Schweizerisches Sozialarchiv

Wanderkalender

Grosser Beliebtheit erfreut sich jahrelang der Wanderkalender der Schweizer Jugendherbergen, der 1935 zum ersten Mal erscheint. Zwölf Monatsbilder im Tiefdruck zeigen Wander- und Landschaftsfotos, die sich als Postkarten abtrennen und verwenden lassen. Auf der Rückseite gibt es Schilderungen aus dem Leben in den Jugendherbergen. Über Sinn und Zweck des Schweizerischen Jugendwanderns und der Entwicklung des Schweizerischen Jugendherbergenwerks kann man sich in Texten auf Französisch und Deutsch auf den «Zwischenblättern» informieren.

Bebildert wird der Wanderkalender auch mit Fotos aus einem jährlichen Wettbewerb. Wer den Spezialpreis für die beste Aussenaufnahme einer Jugendherberge gewinnt, erhält einen Gutschein im Wert von 25 Franken für Ferien in einer Jugendherberge. Der Betrag kann auch ganz oder teilweise in Form von Billettgutscheinen für die Anreise per Bahn ausgehändigt werden. Einen Preis für die Aufnahme «Morgenessen in der Jugendherberge» gewinnt im Fotowettbewerb 1945 Josef Ehrenzeller.

Etwas ganz Besonderes ist gemäss Lehrerinnenzeitung die Ausgabe von 1951 mit farbigen Aufnahmen, die alte Gebrauchsgegenstände aus der ganzen Schweiz zeigen. 1972 wird für den Kalender für das nächste Jahr mit den acht Einlagen mit Wandervorschlägen und Kartenausschnitten geworben: «Anregungen zu genussvollem Wandern». Der letzte Kalender erscheint 1990.

[1] Berner Schulblatt, 1935, Heft 16, 20. Juli 1935, S III

[2] Vgl. Alain Paratte, 1991, S- 36.

[3] Vgl. 50 Jahre Verein für Jugendherbergen Zürich, 1974, S. 10.

[4] Vgl. 50 Jahre Verein für Jugendherbergen Zürich, 1974, S. 12.

[5] Mehr zur Lebensmittelrationierung hier: hls-dhs-dss.ch/de/articles/013782/2010-08-02/

[6] Vgl. 50 Jahre Verein für Jugendherbergen Zürich, 1974, S. 15, und A. Furrer, Was ist eine Jugendherberge, in: Das Werk: Architektur und Kunst, Band 30, Heft 1, 1943

[7] «Die Anforderungen, welche die Zürcher Genossenschaft für Jugendherbergen als Bauherrschaft an den vorliegenden Neubau stellten, gründeten sich auf langjährige Erfahrungen mit dergleichen Herbergen, die zum Teil als Eigenbauten, zum Teil als Mietobjekte betrieben werden. Die wesentlichste Forderung betraf die möglichst elastische Verwendbarkeit des Heimes, entsprechend der wechselnden Belegung durch Knaben und Mädchen. Dies führte zu einer starken Aufteilung der Herberge in einzelne Bäume mittlerer bis kleinerer Grösse, von denen die Schlafräume, zusammen mit einem gemeinsamen Waschraum zwei nach Geschlechtern getrennte Gruppen bilden. Eine jede davon umfasst je zwei zweigeschossige Pritschenräume mit je zehn Schlafstellen und je eine Schlafkammer für nur vier Jugendliche. Für den gemeinschaftlichen Aufenthalt stehen zwei getrennte Bäume zur Verfügung: der grosse Tagesraum und der kleine, welcher besonders bei eingeschränktem Betriebe, bei unsicherem Wetter oder in kühler Jahreszeit benutzt wird.» Architekt Alfred Roth (Cousin von Emil Roth) zur räumlichen Organisation in: Das Werk: Architektur und Kunst, Band 30, Heft 1, 1943

[8] Pro Juventute, 1932, S. 286.

[9] Pro Juventute, 1932, S. 286.

[10] Vgl. z.B. hls-dhs-dss.ch/de/articles/017426/2006-11-23/

[11] Vgl. www.republik.ch/2019/10/19/jenseits-der-vorfuehrung

100 Jahre Schweizer Jugendherbergen

  • 1900 bis 1924: Vorgeschichte

    Freizeit und Geld haben viele Jugendliche kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert kaum. Gemeinschaftliches Wandern, Singen und Tanzen in der freien Natur bieten eine günstige Unterhaltungsmöglichkeit, unabhängig des Daseins von Erwachsenen.

  • 1924 bis 1932: Gründungsjahre

    Nach dem Ersten Weltkrieg begeistert sich die Jugend zunehmend für das Wandern unter ihresgleichen. Eltern und Lehrerschaft sind besorgt: Zerreissen die Familienbande, geht die Autorität verloren, lässt der Arbeitswille nach?

  • 1930 bis 1938: Wirtschaftskrise, geistige Landesverteidigung, Faschismus

    Die 1930er-Jahre sind geprägt von Arbeitslosigkeit, Angst vor einem Krieg und der geistigen Landesverteidigung. Trotzdem erweitern die Jugendherbergen ihr Netz und trotzen der wirtschaftlichen Realität, manchmal mit viel Glück, manchmal mit Wagemut.

  • 1939 bis 1947: Kriegszeit und Wiederaufbau

    Mit dem Kriegsausbruch im Sommer 1938 bricht bei den Jugendherbergen der Besucheransturm zusammen. Anstatt junge Gäste aus dem Ausland schlafen nun Soldaten im Aktivdienst in den Massenschlägen.

  • 1947 bis 1959: Erholung und Professionalisierung

    Nach dem Krieg erholt sich die Welt langsam wieder und der internationale Austausch wird erneut aufgenommen. Nach dem grossen Wachstum bis 1938 nimmt die Zahl der Jugendherbergen stetig ab.

  • 1960 bis 1970: Aufbruch der Jugend

    Die Sechzigerjahre sind geprägt vom wirtschaftlichen Aufschwung und mehr Freiheit suchender Jugendlicher. Die Jugendherbergen sehen sich erstmals einem Konkurrenzdruck ausgesetzt.

  • 1970 bis 1980: Backpacker*innen entdecken die Schweiz

    Nun können sich auch Junge Fernreisen leisten, alles wird günstiger, fast alle haben genügend Arbeit: Die Welt scheint allen offen zu stehen, vor allem den US-Boys und Canadian Girls.

  • 1980 bis 1990: Erforschung des Jugendtourismus

    Auf der Suche nach Sponsoring treten Imagefragen in den Vordergrund. Gehen die Jugendherbergen noch mit der Zeit und was halten die potenziellen Gäste von ihnen?

  • 1990 bis 1999: Umstrukturierung und Neuausrichtung

    Die Schweizer Jugendherbergen müssen sich in der globalisierten Welt zurechtfinden und sind dem Wettbewerb und neu sensibilisierten Gästen aus aller Welt ausgesetzt. Finanziell wird es eng.

  • 2000 bis 2010: Neupositionierung und Imagekorrektur

    Wer kennt die Schweizer Jugendherbergen nicht? Kaum jemand. Jeder dritte Schweizer, jede dritte Schweizerin weiss, von wem die Rede ist, wenn sie auf die «Jugis» angesprochen werden. Sie sind ein nationales Symbol.

  • 2010 bis 2019: Strategische Nachhaltigkeit

    Ab dem Jahr 2010 ernten die Jugendherbergen Sonne vom Dach. Im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie der Schweizer Jugendherbergen werden ab dem zweiten Jahrzehnt der 2000er-Jahre zahlreiche Projekte im Bereich erneuerbare Energien umgesetzt.

  • Ab 2020: Pandemiejahre und Neustart

    2020 / 2021 bringt die COVID-19-Pandemie die internationale Reisetätigkeit fast vollständig zum Erliegen. Kontakt-, Schul- und Gruppenreiseverbote innerhalb der Schweiz bringen die Schweizer Jugendherbergen an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit.