1990 bis 1999

Umstrukturierung und Neuausrichtung

«Einst gab es in der Schweiz über 200 Jugendherbergen. Sie waren derart entlang von Wanderetappen aufgereiht, dass die wanderfreudige Jugend überall auf Unterkünfte stiess. Doch innerhalb der letzten achtzig Jahre hat sich die Nachfrage verändert – eine
Tatsache, die uns bewog, eine neue Netzwerkstrategie zu entwickeln. Den Gesetzen des Marktes können auch wir, als Nonprofit-Organisation, uns nicht entziehen.»
[1]

Schweizweite Fusion

Der Tourismus hat sich zusehends verändert, so dass auch die Jugendherbergen nicht an tradierten Modellen festhalten können. Um die eigene Veränderung anzugehen, erarbeiten sie sich in einem partizipativen Verfahren ein neues Leitbild. «Jugi 2005» heisst das Resultat, das im Februar 1992 bereitsteht, erarbeitet mit Unterstützung des Forschungsinstituts für Freizeit und Tourismus der Universität Bern.

Das daraus resultierende Marketingkonzept setzt hoch gesteckte Ziele: Die Leistungen sollen «hohen ethischen, kulturellen und materiellen Qualitätsanforderungen genügen». Ganz wichtig ist dabei, dass weiterhin preiswerte Leistungen angeboten werden können. Und um quasi die Quadratur des Kreises zu erreichen, will man auch den steigenden Qualitätsansprüchen gerecht werden.

Fünf Punkte stehen nun im Vordergrund: Neue Standorte müssen an einer touristisch attraktiven Lage liegen, es dürfen keine Konkurrenzsituationen mit anderen Jugendherbergen geschaffen werden und es soll ein Interesse der öffentlichen Hand an jedem neuen Haus erkennbar sein. Die Zahl der zu erwartenden Übernachtungen muss bei mindestens 10’000 pro Jahr liegen.

 

 

Jugendherberge Fällanden (1990)

Bild: SJH-Archiv

Jugendherberge Leissigen (1995)

Bild: SJH-Archiv

Jedes bestehende Haus soll klassifiziert werden, vorgeschlagen werden sechs verschiedene Typen: Durchgangsherbergen, Romantik-Herbergen, Familien-Herbergen, Sport-Freizeit-Herbergen, Seminar-Herbergen und Gruppen-Herbergen. Die Neubauten müssen sich auch in diese Klassifizierungen einordnen lassen, überdies nach möglichst ökologischen Grundsätzen und barrierefrei errichtet werden. Daneben gibt es Renovationsziele, damit in einer ersten Runde die Minimal-Qualitätsstandards erreicht werden. Um all das angehen zu können, sind die Mitarbeitenden gefordert. Ganz im Geiste der 1990er-Jahre sollen sie zum Beispiel durch «wettbewerbsähnliche Veranstaltungen» und Kreativitätsseminare gefördert werden. Bei so vielen Vorhaben kommt es gerade recht, dass 1991 eine Rekordzahl an Übernachtungen erzielt wird: 945’174 sind es in der ganzen Schweiz.

Ein wichtiger Schritt für die Umsetzung des Leitbildes ist im Jahr 1991 die erste Fusionsetappe, in der sich die Kreise Zürich, Nordostschweiz, Bern, Ostschweiz Neuenburg und Waadt zum Verein Schweizer Jugendherbergen zusammenschliessen. Ab 1994 gibt es eine zentrale Verwaltung in Zürich und allen ist bewusst, dass nun dringend die Infrastrukturen angepasst und auf den neusten Stand gebracht werden müssen.

Schon vorher musste sich die Schweizerische Stiftung für Sozialtourismus überlegen, was sie nach dem ersten Zusammenschluss regionaler Herbergen-Vereine mit den 35 Liegenschaften, die sie plötzlich im Portfolio hatte, anfangen soll. Im «Bauhandbuch 2005» – einer Architekturbibel, die auf den Werten des Organisationsleitbilds «Jugi 2005» basiert und bis heute Bestand hat – werden kleinere Zimmereinheiten mit mehr Privatsphäre dank Vorzonen, persönliche Ablagen mit Bettenleuchten, ein Bettwäschekonzept bis hin zu einem zeitgemässen Schliesssystem mit 24-Stunden-Zutritt festgelegt. Bezahlt werden kann neu auch mit Kreditkarte. Es gibt grossen Renovationsbedarf, aber dazu fehlt (noch) das Geld.

 

 

Jugendherberge Baden (1993)

Bild-SJH-Archiv

Jugendherberge Baden (1993)

Bild: SJH-Archiv

1996 tritt Fredi Gmür die Geschäftsleitung der Schweizer Jugendherbergen an, und sagt: «Der Tourismus hat sich in den vergangenen Jahren massiv verändert. Stichworte dazu sind die Globalisierung der Märkte, veränderte Wettbewerbssituationen sowie neue Bedürfnisse der Gäste.»[2]

An der Schwelle zum neuen Jahrtausend herrscht eine optimistische Aufbruchstimmung, die roten Zahlen gehen langsam in ein Rosa über und die Schweizer Jugendherbergen schrumpfen sich zusehends gesund. Jahr für Jahr gibt es weniger Standorte bei fast gleicher Besucherzahl. Vermehrt finden die «Jugis» mit dem neuen Konzept auch wieder bei Einheimischen Anklang. Unter diesen Vorzeichen feiert der Verein 1999 seinen 75. Geburtstag mit 75 sportlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Events zu den Jugendherbergen, Vergünstigungen und Sonderangeboten und einer Jubiläumsausgabe der Vereinszeitschrift, die seit 1986 «Ticket» heisst.

[1] René Dobler im Interview mit der Zeitschrift Hochparterre 2005, ….

[2] Zit. Nach Ticket Nr. 2, April 1999, S. 18.

100 Jahre Schweizer Jugendherbergen

  • 1900 bis 1924: Vorgeschichte

    Freizeit und Geld haben viele Jugendliche kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert kaum. Gemeinschaftliches Wandern, Singen und Tanzen in der freien Natur bieten eine günstige Unterhaltungsmöglichkeit, unabhängig des Daseins von Erwachsenen.

  • 1924 bis 1932: Gründungsjahre

    Nach dem Ersten Weltkrieg begeistert sich die Jugend zunehmend für das Wandern unter ihresgleichen. Eltern und Lehrerschaft sind besorgt: Zerreissen die Familienbande, geht die Autorität verloren, lässt der Arbeitswille nach?

  • 1930 bis 1938: Wirtschaftskrise, geistige Landesverteidigung, Faschismus

    Die 1930er-Jahre sind geprägt von Arbeitslosigkeit, Angst vor einem Krieg und der geistigen Landesverteidigung. Trotzdem erweitern die Jugendherbergen ihr Netz und trotzen der wirtschaftlichen Realität, manchmal mit viel Glück, manchmal mit Wagemut.

  • 1939 bis 1947: Kriegszeit und Wiederaufbau

    Mit dem Kriegsausbruch im Sommer 1938 bricht bei den Jugendherbergen der Besucheransturm zusammen. Anstatt junge Gäste aus dem Ausland schlafen nun Soldaten im Aktivdienst in den Massenschlägen.

  • 1947 bis 1959: Erholung und Professionalisierung

    Nach dem Krieg erholt sich die Welt langsam wieder und der internationale Austausch wird erneut aufgenommen. Nach dem grossen Wachstum bis 1938 nimmt die Zahl der Jugendherbergen stetig ab.

  • 1960 bis 1970: Aufbruch der Jugend

    Die Sechzigerjahre sind geprägt vom wirtschaftlichen Aufschwung und mehr Freiheit suchender Jugendlicher. Die Jugendherbergen sehen sich erstmals einem Konkurrenzdruck ausgesetzt.

  • 1970 bis 1980: Backpacker*innen entdecken die Schweiz

    Nun können sich auch Junge Fernreisen leisten, alles wird günstiger, fast alle haben genügend Arbeit: Die Welt scheint allen offen zu stehen, vor allem den US-Boys und Canadian Girls.

  • 1980 bis 1990: Erforschung des Jugendtourismus

    Auf der Suche nach Sponsoring treten Imagefragen in den Vordergrund. Gehen die Jugendherbergen noch mit der Zeit und was halten die potenziellen Gäste von ihnen?

  • 1990 bis 1999: Umstrukturierung und Neuausrichtung

    Die Schweizer Jugendherbergen müssen sich in der globalisierten Welt zurechtfinden und sind dem Wettbewerb und neu sensibilisierten Gästen aus aller Welt ausgesetzt. Finanziell wird es eng.

  • 2000 bis 2010: Neupositionierung und Imagekorrektur

    Wer kennt die Schweizer Jugendherbergen nicht? Kaum jemand. Jeder dritte Schweizer, jede dritte Schweizerin weiss, von wem die Rede ist, wenn sie auf die «Jugis» angesprochen werden. Sie sind ein nationales Symbol.

  • 2010 bis 2019: Strategische Nachhaltigkeit

    Ab dem Jahr 2010 ernten die Jugendherbergen Sonne vom Dach. Im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie der Schweizer Jugendherbergen werden ab dem zweiten Jahrzehnt der 2000er-Jahre zahlreiche Projekte im Bereich erneuerbare Energien umgesetzt.

  • Ab 2020: Pandemiejahre und Neustart

    2020 / 2021 bringt die COVID-19-Pandemie die internationale Reisetätigkeit fast vollständig zum Erliegen. Kontakt-, Schul- und Gruppenreiseverbote innerhalb der Schweiz bringen die Schweizer Jugendherbergen an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit.