1960 bis 1970

Aufbruch der Jugend

«I can’t get no satisfaction» - «Entdecke Dich selbst! In jedem Menschen schlummert viel mehr, als er selber weiss.» Rolling Stones treffen auf Globus-Warenhauswerbung. Und etwas Ratlosigkeit macht sich breit.

Junge Menschen im Reisefieber

In den 1960er und 1970er Jahren erlebt der Jugendtourismus einen bedeutenden Aufschwung. Junge Tramperinnen und Anhalter ziehen mit Rucksäcken auf eigene Faust durch die Welt. Sie haben meist ein schmales Portemonnaie und bevorzugen einfache und kostengünstige Unterkünfte. Da kommen die Jugendherbergen gelegen.

Der Bund der Schweizer Jugendherbergen will beim zunehmend internationalen Reisefieber auch mithalten und gründet 1967 den Schweizer Jugendreisedienst in Zusammenarbeit mit Schweizer Studentenreisedienst SSR. Dieser wird 1970 in die «jugi tours» umgewandelt. Auf dem Jugendreisemarkt macht sich jetzt zunehmend Konkurrenz breit: Pensionen, Gruppenunterkünfte und Bed & Breakfast-Angebote richten sich neu auch direkt an die jugendlichen Reisenden. Im Zuge des Drucks von aussen werden auch interne Probleme deutlich. Die Organisation ist in der ganzen Schweiz vertreten, aber die Geschäftsstrukturen sind nicht wirklich mitgewachsen. Zwar gibt es bedeutend weniger Häuser und die Zahl sinkt jährlich weiter, aber man befürchtet eine Stagnation und finanzielle Folgen.

 

 

Wanderweg (1962)

Bild: SJH-Archiv

Gäste in Stein am Rhein (1966)

SJH-Archiv

Die Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre macht sich in der Schweiz zuerst vor allem wirtschaftlich bemerkbar. Der Kalte Krieg beherrscht das Land, Frauen haben nach wie vor kein Stimmrecht und zeitgenössischer Sound ist verpönt.[1] Ein Teil der jungen Schweizerinnen und Schweizer beginnt aber wieder Orte zu verlangen, die sie autonom nutzen können. Jugendhäuser sollen nicht den Vorstellungen Erwachsener als Orte entsprechen, die sie von schlechten Einflüssen abhalten. In den Jugendherbergen bemängeln sie die als starr empfundenen Hausregeln mit Nachtruhe, Alkohol- und Rauchverbot. Und nicht nur in den Leitungsgremien sitzen alles Erwachsene, sondern auch in den Herbergszimmern sind diese immer öfter anzutreffen. Familien besetzen die Betten und verlangen nach neuen Angeboten und Zimmeraufteilungen.

Daneben setzt sich die Entwicklung des vorangehenden Jahrzehnts fort, dass mehrheitlich ausländische Übernachtende das Publikum ausmachen, und die Schweizer Jugendgäste treffen auf ganz neue Vorstellungen und Ideen. Der Protest gegen den Vietnamkrieg erfasst nach und nach auch die Schweiz und am 29. Juni 1968 kommt es zum Knall, als in Zürich ein autonomes Jugendzentrum verweigert wird. Die Politisierung der Jugend ist beim Bund der Schweizer Jugendherbergen kaum ein Thema, aber dem Unabhängigkeitsdrang ihrer Kundschaft müssen sie mehr und mehr gerecht werden. So wie die kratzigen Wolldecken Anfang des Jahrzehnts abgelöst worden sind, müssen ein paar andere Gewohnheiten in den 1970er-Jahren neuen Bedürfnissen und Ansprüche weichen.

In der 1965 eröffneten Zürcher Jugendherberge an der Mutschellenstrasse werden bald mehrheitlich Gäste aus der ganzen Welt die 318 Betten beziehen.

 

 

Jugendherberge Zürich (1965)

Bild: SJH-Archiv

Schlafsaal Jugendherberge Zürich (1965)

Bild: SJH-Archiv

[1] Vgl. Erika Hebeisen, Elisabeth Joris, Angela Zimmermann, Zürich 68, Kollektive Aufbrüche ins Ungewisse, 2008, S. 7.

100 Jahre Schweizer Jugendherbergen

  • 1900 bis 1924: Vorgeschichte

    Freizeit und Geld haben viele Jugendliche kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert kaum. Gemeinschaftliches Wandern, Singen und Tanzen in der freien Natur bieten eine günstige Unterhaltungsmöglichkeit, unabhängig des Daseins von Erwachsenen.

  • 1924 bis 1932: Gründungsjahre

    Nach dem Ersten Weltkrieg begeistert sich die Jugend zunehmend für das Wandern unter ihresgleichen. Eltern und Lehrerschaft sind besorgt: Zerreissen die Familienbande, geht die Autorität verloren, lässt der Arbeitswille nach?

  • 1930 bis 1938: Wirtschaftskrise, geistige Landesverteidigung, Faschismus

    Die 1930er-Jahre sind geprägt von Arbeitslosigkeit, Angst vor einem Krieg und der geistigen Landesverteidigung. Trotzdem erweitern die Jugendherbergen ihr Netz und trotzen der wirtschaftlichen Realität, manchmal mit viel Glück, manchmal mit Wagemut.

  • 1939 bis 1947: Kriegszeit und Wiederaufbau

    Mit dem Kriegsausbruch im Sommer 1938 bricht bei den Jugendherbergen der Besucheransturm zusammen. Anstatt junge Gäste aus dem Ausland schlafen nun Soldaten im Aktivdienst in den Massenschlägen.

  • 1947 bis 1959: Erholung und Professionalisierung

    Nach dem Krieg erholt sich die Welt langsam wieder und der internationale Austausch wird erneut aufgenommen. Nach dem grossen Wachstum bis 1938 nimmt die Zahl der Jugendherbergen stetig ab.

  • 1960 bis 1970: Aufbruch der Jugend

    Die Sechzigerjahre sind geprägt vom wirtschaftlichen Aufschwung und mehr Freiheit suchender Jugendlicher. Die Jugendherbergen sehen sich erstmals einem Konkurrenzdruck ausgesetzt.

  • 1970 bis 1980: Backpacker*innen entdecken die Schweiz

    Nun können sich auch Junge Fernreisen leisten, alles wird günstiger, fast alle haben genügend Arbeit: Die Welt scheint allen offen zu stehen, vor allem den US-Boys und Canadian Girls.

  • 1980 bis 1990: Erforschung des Jugendtourismus

    Auf der Suche nach Sponsoring treten Imagefragen in den Vordergrund. Gehen die Jugendherbergen noch mit der Zeit und was halten die potenziellen Gäste von ihnen?

  • 1990 bis 1999: Umstrukturierung und Neuausrichtung

    Die Schweizer Jugendherbergen müssen sich in der globalisierten Welt zurechtfinden und sind dem Wettbewerb und neu sensibilisierten Gästen aus aller Welt ausgesetzt. Finanziell wird es eng.

  • 2000 bis 2010: Neupositionierung und Imagekorrektur

    Wer kennt die Schweizer Jugendherbergen nicht? Kaum jemand. Jeder dritte Schweizer, jede dritte Schweizerin weiss, von wem die Rede ist, wenn sie auf die «Jugis» angesprochen werden. Sie sind ein nationales Symbol.

  • 2010 bis 2019: Strategische Nachhaltigkeit

    Ab dem Jahr 2010 ernten die Jugendherbergen Sonne vom Dach. Im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie der Schweizer Jugendherbergen werden ab dem zweiten Jahrzehnt der 2000er-Jahre zahlreiche Projekte im Bereich erneuerbare Energien umgesetzt.

  • Ab 2020: Pandemiejahre und Neustart

    2020 / 2021 bringt die COVID-19-Pandemie die internationale Reisetätigkeit fast vollständig zum Erliegen. Kontakt-, Schul- und Gruppenreiseverbote innerhalb der Schweiz bringen die Schweizer Jugendherbergen an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit.