1900 bis 1924

Vorgeschichte

(…) «Zeit ist Geld!» Alles richtete sich nach diesem Gesetz. Eisenbahnen wurden gebaut, Flugmaschinen erfunden. Das ersetzte das Gehen. Man wanderte nicht mehr, das ging zu langsam. Man bewunderte die Natur, weil es so Mode war. Im Automobil durchraste man die Welt. Aber das Wandern, wie es zu Grossvaters Zeit üblich gewesen war, das hatte man verlernt.»[1]

«Wenig Geld, aber gute Beine» – Die gesunde Jugend wandert

Freies Wandern – und nicht Fussmärsche wie auf Schulreisen – verspricht ein unabhängiges Leben ausserhalb der Kontrolle der älteren Generation. Die Freizeit ist zwar auch für Jugendliche knapp, einzig am Sonntag ist schulfrei. Nur für ganz wenige Lehrlinge gibt es eine Ferienregelung und auch Arbeiterinnen und Arbeiter kennen kaum gesetzlich geregelten Urlaub, die besser gestellten Angestellten in der Regel auch lediglich 14 Tage.

Als Reaktion auf die Industrialisierung und Urbanisierung entstehen im späten 19. Jahrhundert Lebensreformbewegungen, die die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht als Fortschritt, sondern als schädigend anschauen. Durch die Rückkehr zu einer naturnahen Lebensweise sollen die Menschen von ihren «Zivilisationskrankheiten» geheilt werden. Die Reformbestrebungen umfassen auch die Körperkultur: Tanzen, Gymnastik und Wandern sollen die natürlichen Kräfte fördern. Grosses Gewicht legt die Bewegung auf die Jugend, die abstinent und in der freien Natur ihre Freizeit verbringen soll. Diese Ideen stossen bei vielen Heranwachsenden auf offene Ohren, denn sie versprechen, eine neue, unabhängige Kultur mit einer eigenen, aktiven Freizeitgestaltung entwickeln zu können. Skifahren, Wandern, Singen und Tanzen ganz auf eigene Faust.

 

 

Gruppenporträt vom Zentralfest der Helvetia (1906)

Bild: F_5000-Fx-361, Schweizerisches Sozialarchiv

Gruppenporträt der Wandervögel in Lugano (um 1910)

Bild: F_5000-Fx-276, Schweizerisches Sozialarchiv

Diese Ideale haben auch Studierende im Kopf, als sie 1907 am Zentralfest der Studentenverbindung Helvetia nach deutschem Vorbild die bürgerliche Jugendbewegung «Wandervogel. Schweizerischer Bund für alkoholfreie Jugendwanderungen» gründen. Gleich zu Beginn wird heftig zum Thema «Sittlichkeit» diskutiert, also auch ob junge Frauen aufgenommen werden sollen. Unter dem Vorbehalt, dass mehrtägige Ausflüge geschlechtergetrennt durchgeführt werden, haben auch sie Zugang. Dem Beinamen gerecht werdend, galt für alle ein striktes Alkoholverbot: «Wer draussen in der freien Natur sich seines Lebens freut, der braucht sich nicht künstlich zu berauschen.»[2]  

1916 sind 1200 Jugendliche als Wandervögel organisiert, 400 Mädchen und 800 Jungen. Sie geben eine eigene Monatszeitschrift heraus und treffen sich zu Ferienwanderungen, die zwischen vier Tagen und zwei Wochen dauern und von einem älteren Mitglied geleitet werden, das Übernachtungs-möglichkeiten in Hütten bucht.

An Pfingsten treffen sich die Wandervögel zu «Landsgemeinden». Die noch nicht stimmberechtigten Jugendlichen üben sich an ihren jährlichen Frühlingstreffen in Basisdemokratie und Gemeinschafts-leben: «Der Vormittag ist den Verhandlungen gewidmet. Jeder Wandervogel hat das Recht zur Rede und zur Abstimmung. Nach den Geschäften wird gespielt und gesungen. Eine Gruppe lernt von der anderen ein neues Volkslied.»[3]

 

 

Gruppenporträt vor der Wandervogel-Landsgemeinde auf der Kyburg (1910)

Bild: F_5000-Fx-001, Schweizerisches Sozialarchiv

Wandervögel spielen mit Spielkarten - Petroleumlampe (Weihnachten 1913)

Bild: F_5000-Fx-289_1913, Schweizerisches Sozialarchiv

Über 40 Jahre vor den Wandervögeln ist der Schweizer Alpenclub SAC entstanden. Mit seiner bürgerlich-konservativen Ausrichtung und dem Ausschluss von weiblichen Aktivmitgliedern ist der SAC kein wirklicher Partner für die Wandervogel-Bewegung. Eine Fusion – gerne hätte der SAC die Wandervögel als Jugendabteilung übernommen – lehnen die freiheitsliebenden Jugendlichen 1911 denn auch ab.

Neben mehrheitlich bürgerlich geprägten Jugendbewegungen entstehen in der Schweiz um 1900 auch Organisationen, die der Arbeiterbewegung nahestehen. In Zürich schliessen sich junge Männer zur «Vereinigung gleichgesinnter Arbeiterjünglinge zum Zwecke der Belehrung und Freundschaft» zusammen. Initiant ist der sozialdemokratische Pfarrer Paul Pflüger. Neben der politischen Bildung legt auch der «Jungburschenverein», wie er kurz genannt wird, viel Wert auf gemeinsames Wandern als körperliche Ertüchtigung. Fitte junge Männer sollen zu guten Vertretern der Arbeiterschaft werden, so die gängige Meinung.[4]

 

 

Auf dem Jöriflesspass (Graubünden): Rast der Wandervögel, zwei Kinder anwesend (1909)

Bild: F_5000-Fx-171, Schweizerisches Sozialarchiv

Wandervogel-Landsgemeinde auf dem Bantiger bei Bern - Küche in Geristein (Pfingsten 1914)

Bild: F_5000-Fx-011, Schweizerisches Sozialarchiv

Ebenfalls politisch engagiert sind die Jugendlichen der «Evangelischen Jugendbewegung Freischar», die 1918 gegründet wird. Der religiöse Sozialist Leonhard Ragaz, ein Theologieprofessor und späterer Armenpfarrer, ruft die Jugend im Angesicht der Kriegserfahrungen von 1914 bis 1918 zu einem neuen Denken und Sehen auf. Und so lehnen die Freischärler feste Strukturen ab und engagieren sich für den Weltfrieden. Das gesellige Zusammensein – auch das gemeinsame Wandern – und politische Bildung spielen bei ihnen eine grosse Rolle. Zu den Freischärlern gehört auch Ernst Schuler, der sich früh mit anderen Jugendgruppen vernetzt: «Trotz der Verschiedenheit der gesteckten Ziele und Aufgaben gab es Gelegenheit zu gemeinsamem Wirken.»[5] Neben der Verbrennung von «Schundliteratur» versuchen Jugendliche aus den ganz unterschiedlichen Organisationen der Fasnacht den Garaus zu machen. Diese Aktionen haben aber eine kurze Lebensdauer. Was hingegen allen gefällt, ist das Wandern.

 

 

"Vorbereitungen für die Jugendreise" - Edy Meyer links aussen (um 1920)

Bild: F 5008-Fa-051, Schweizerisches Sozialarchiv

Erster Briefkopf des Schweizer Wandervogels (1920)

Bild: F 5000-Px-274, Schweizerisches Sozialarchiv

[1] F.K.: Vom Wandervogel, Die Berner Woche in Wort und Bild : ein Blatt für heimatliche Art und Kunst, Band 6, 1916, S. 270. ((bwo-001_1916_6__995_d.pdf))

[2] F.K.: Vom Wandervogel, Die Berner Woche in Wort und Bild : ein Blatt für heimatliche Art und Kunst, Band 6, 1916, S. 271. ((bwo-001_1916_6__995_d.pdf))

[3] F.K.: Vom Wandervogel, Die Berner Woche in Wort und Bild : ein Blatt für heimatliche Art und Kunst, Band 6, 1916, S. 271. ((bwo-001_1916_6__995_d.pdf))

[4] Vgl. Hardegger, 2017

[5] Pro Juventute, 1932: Ernst Schuler, S. 276.

100 Jahre Schweizer Jugendherbergen

  • 1900 bis 1924: Vorgeschichte

    Freizeit und Geld haben viele Jugendliche kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert kaum. Gemeinschaftliches Wandern, Singen und Tanzen in der freien Natur bieten eine günstige Unterhaltungsmöglichkeit, unabhängig des Daseins von Erwachsenen.

  • 1924 bis 1932: Gründungsjahre

    Nach dem Ersten Weltkrieg begeistert sich die Jugend zunehmend für das Wandern unter ihresgleichen. Eltern und Lehrerschaft sind besorgt: Zerreissen die Familienbande, geht die Autorität verloren, lässt der Arbeitswille nach?

  • 1930 bis 1938: Wirtschaftskrise, geistige Landesverteidigung, Faschismus

    Die 1930er-Jahre sind geprägt von Arbeitslosigkeit, Angst vor einem Krieg und der geistigen Landesverteidigung. Trotzdem erweitern die Jugendherbergen ihr Netz und trotzen der wirtschaftlichen Realität, manchmal mit viel Glück, manchmal mit Wagemut.

  • 1939 bis 1947: Kriegszeit und Wiederaufbau

    Mit dem Kriegsausbruch im Sommer 1938 bricht bei den Jugendherbergen der Besucheransturm zusammen. Anstatt junge Gäste aus dem Ausland schlafen nun Soldaten im Aktivdienst in den Massenschlägen.

  • 1947 bis 1959: Erholung und Professionalisierung

    Nach dem Krieg erholt sich die Welt langsam wieder und der internationale Austausch wird erneut aufgenommen. Nach dem grossen Wachstum bis 1938 nimmt die Zahl der Jugendherbergen stetig ab.

  • 1960 bis 1970: Aufbruch der Jugend

    Die Sechzigerjahre sind geprägt vom wirtschaftlichen Aufschwung und mehr Freiheit suchender Jugendlicher. Die Jugendherbergen sehen sich erstmals einem Konkurrenzdruck ausgesetzt.

  • 1970 bis 1980: Backpacker*innen entdecken die Schweiz

    Nun können sich auch Junge Fernreisen leisten, alles wird günstiger, fast alle haben genügend Arbeit: Die Welt scheint allen offen zu stehen, vor allem den US-Boys und Canadian Girls.

  • 1980 bis 1990: Erforschung des Jugendtourismus

    Auf der Suche nach Sponsoring treten Imagefragen in den Vordergrund. Gehen die Jugendherbergen noch mit der Zeit und was halten die potenziellen Gäste von ihnen?

  • 1990 bis 1999: Umstrukturierung und Neuausrichtung

    Die Schweizer Jugendherbergen müssen sich in der globalisierten Welt zurechtfinden und sind dem Wettbewerb und neu sensibilisierten Gästen aus aller Welt ausgesetzt. Finanziell wird es eng.

  • 2000 bis 2010: Neupositionierung und Imagekorrektur

    Wer kennt die Schweizer Jugendherbergen nicht? Kaum jemand. Jeder dritte Schweizer, jede dritte Schweizerin weiss, von wem die Rede ist, wenn sie auf die «Jugis» angesprochen werden. Sie sind ein nationales Symbol.

  • 2010 bis 2019: Strategische Nachhaltigkeit

    Ab dem Jahr 2010 ernten die Jugendherbergen Sonne vom Dach. Im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie der Schweizer Jugendherbergen werden ab dem zweiten Jahrzehnt der 2000er-Jahre zahlreiche Projekte im Bereich erneuerbare Energien umgesetzt.

  • Ab 2020: Pandemiejahre und Neustart

    2020 / 2021 bringt die COVID-19-Pandemie die internationale Reisetätigkeit fast vollständig zum Erliegen. Kontakt-, Schul- und Gruppenreiseverbote innerhalb der Schweiz bringen die Schweizer Jugendherbergen an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit.