1947 bis 1959

Erholung und Professionalisierung

«Betreff der Einrichtung für das Elektrische in der JH. teilen wir Ihnen mit, dass Sapün im Sinn hat, ein Elektrizitätswerk zu errichten. Wenn das zustande kommt, würden wir auch die JH. mit Strom versehen. Das wäre wegen der Brandgefahr zu begrüssen, denn die meisten jungen Leute verstehen nicht, mit einem Holzherd umzugehen, ebenso wenig mit Petrollampen.»[1]

Veränderung der Reisegewohnheiten

Einige Jugendherbergen werden nicht weiter angemietet, darunter auch das «Heimeli» der Familie Engler in Sapün, das aber heute noch als Berggasthaus betrieben wird. 

Nach Kriegsende 1945 sind Auslandreisen noch kaum möglich und die Auslastung bleibt bis 1947 schwach. 1948 veranstaltet der «Weltfriedensbund der Jugend» in der Jugendherberge Rotschuo ein internationales Ferienlager mit Vertretungen aus zehn Nationen. Aus Deutschland nehmen vier Personen teil. In einer Resolution an die UNSECO bringen die Jugendlichen «den Wunsch zum Ausdruck, alle Bemühungen der Länder, die Möglichkeit einer Kriegsdienstverweigerung verfassungsmässig festzulegen, zu unterstützen».[2] Ein Jahr zuvor reisen Schweizer Jugendherbergler*innen für zwei Wochen nach Holland, um beim Wiederaufbau der dortigen Herbergen zu helfen. Die internationale Zusammenarbeit wird langsam wieder aufgenommen und bereits an der ersten Nachkriegskonferenz des Dachverbands International Youth Hostel Federation (IYHF) 1946 in Schottland, ist die Schweiz im Vorstand vertreten. Die Mitgliederländer beschliessen, die nationalen Mitgliedschaften gegenseitig zu anerkennen. Die Schweiz war bereits an der Gründungsversammlung 1932 dabei. Elf europäische Länder beteiligten sich vom 20. bis 22. Oktober 1932 am Aufbau der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Jugendherbergen.[3]

 

 

Jugendherberge Rotschuo, Gersau - Küchenmannschaft vor der Jugendherberge bei Rüstarbeiten (um 1955)

Bild: F 5146-Da-B011-0047, Schweizerisches Sozialarchiv

Jugendherberge Rotschuo, Gersau - Jugendliche beim Abwasch (um 1955)

Bild: F 5146-Da-B011-0048, Schweizerisches Sozialarchiv

Jugendherberge Rotschuo, Gersau (um 1955)

Bild: F 5146-Da-B011-0045, Schweizerisches Sozialarchiv

Jugendherberge Rotschuo, Gersau (um 1955)

Bild: F 5146-Da-B011-0046, Schweizerisches Sozialarchiv

«O weh – 25 Jahre alt!»

Weil das Hotelbauverbot in der Schweiz nach wie vor in Kraft ist, muss die Schweizer Delegation auch 1946 an der Altersgrenze von 25 Jahren für Übernachtende festhalten. Ab Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 half diese Altersvorgabe, um nicht dem seit 1915 bestehenden Erlass, dass der Bau neuer oder die Erweiterung bestehender Hotels nur noch mit einer Bewilligung des Bundesrats möglich sind, unterstellt zu werden. Die Regelung wird schliesslich 1952 aufgehoben und vier Jahre später (1956) dürfen auch wieder ältere Semester in den Schweizer Jugendherbergen nächtigen.

Von nun an gilt nicht mehr, was Bundesgeschäftsführer Otto Binder wenige Jahre vorher erklären musste: «Hat ein junger Mensch das 25. Altersjahr überschritten, so findet er als Einzelwanderer in den Schweizerischen Jugendherbergen keinen Einlass mehr. Er kann aber auch eine Führerkarte zu Fr 3.- lösen, die ihn berechtigt, in Begleitung einer Gruppe von mindestens 2 Jugendlichen unter 25 Jahren die Jugendherberge zu benützen.»[4] Er gibt hier noch einen kleinen Tipp mit. Trotz der offiziell strengen Regelung gab es für gewiefte Familien durchaus Möglichkeiten in einer Jugendherberge abzusteigen, wenn sie genügend Nachwuchs im Schlepptau hatten und bereit waren, etwas mehr zu bezahlen.

Zu Beginn der 1950er-Jahre nehmen die Besuchendenzahlen wieder zu und die Anzahl Übernachtungen steigt kontinuierlich. 1954 gibt es in der Schweiz die letzte sehr grosse Kinderlähmungsepidemie mit 1628 Fällen. Schulreisen und Ferienlager werden bei Polio-Ausbrüchen immer wieder verboten, was auch die Jugendherbergen zu spüren bekommen. Erst ab 1957 gibt es einen Impfstoff und die Zahl der Fälle nimmt in der Folge ab. Heute ist die Schweiz offiziell poliofrei.

 

 

Jugendherberge Zürich, Mutschellenstrasse 116 (ca. 1950)

Bild: F Fb-0017-40, Schweizerisches Sozialarchiv

Jugendherberge Brugg (1958)

Bild: SJH-Archiv

Offen für Flüchtende – Friedensförderung und Völkerverständnis
Noch geprägt vom Weltkrieg sagt der Bundesobmann der Schweizer Jugendherbergen 1951 an der Jahresversammlung: «Alles Leben ist ein Wandern. Möge dieses Wandern stets eine Bewegung sein, die der Völkerverständigung von Land zu Land und damit dem Frieden dient.»[5]

Nach dem Friedensschluss stellen die Jugendherbergen ihre Häuser auch Vertriebenen zu Verfügung. Das stösst bisweilen auf Unmut, weil die Platzzahl reduziert ist, aber die meisten Mitglieder haben Verständnis für die Not. Nach dem Ungarnaufstand 1956 finden manche Geflohene vorübergehend ein Bett in einer Jugendherberge.

Das hat bis heute Tradition. Als 2015 viele Flüchtlinge in die Schweiz gelangen, werden 200 von ihnen temporär in Jugendherbergen, die im Winter für Gäste geschlossen sind, untergebracht. Schon kurz nach dem Überfall Putins 2022 auf die Ukraine stellen die Schweizer Jugendherbergen spontan Überlegungen an, kurzfristige Unterkünfte bereitzustellen und einige Gemeinden machen auch von diesem Angebot Gebrauch.

Wir reisen, wie’s uns passt
Anfang der 1950er-Jahre heisst es Geburtstag feiern: Die Schweizer Jugendherbergen werden 25. In seinen Ausführungen im aus Anlass des Jubiläums erweiterten Jahresbericht für 1950 kommt der Bundesobmann Hans Hunziker auf einen Umstand zu sprechen, der den nun doch etwas in die Jahre gekommenen Leitungspersonen ein Dorn im Auge zu sein scheint: Die Jugend reist anders als ein Vierteljahrhundert zuvor. Im Festjahr fliege man schon von Land zu Land. «Sogar das Problem des Autocars vor den Jugendherbergen ist schon akut geworden. Die neue Zeit pocht energisch an die Pforten. Wer will sich das wehren? Es wäre eitel.»[6] Im internationalen Verband wird seit 1949 heftig diskutiert, ob Gäste, die mit Autostopp reisen, eingelassen werden. Zwei Jahre später wird im gleichen Gremium über die Zulassung von Töfflifahrenden debattiert und 1954 erregt die Frage der Zulassung von Gruppen, die im Bus anreisen, die Gemüter. Zu Beginn hiess es «aus eigener Kraft» anzureisen, zu Fuss oder mit dem Velo, darauf werden auch Bahn- und Postautofahrten akzeptiert. Ist das veränderte Mobilitätsverhalten noch mit dem wahren Geiste der Jugendherbergen zu vereinbaren? Die Mehrheit erkennt die Zeichen der Zeit und meint Ja.[7] Fest steht: «Auch unsere Gäste haben sich über die Jahre gewandelt. Die einstigen Wandervögel mit Rucksack und Musikinstrument reisen heute per Autostopp, Zug und Flugzeug.»[8]

 

 

Nach Schwyz (um 1929)

Bild: Ans_15303-384-AL-FL, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Dichter Verkehr, Escher-Wyss-Platz, Zürich (1967)

Bild: WOL_003930, Baugeschichtliches Archiv, Wolgensinger Michael

Die Diskussionen zum korrekten Mobilitätsverhalten ziehen sich hin. Erst 1968 hebt der deutsche Verband das Übernachtungsverbot für Automobilist*innen auf und die meisten Länder folgen dem Entscheid.[9]

Familien entdecken die Jugi
Nicht nur die Formen der Anreise sind neu, auch die Gästezusammensetzung: Immer mehr Familien wollen die Jugendherbergen nutzen. Die Altersbeschränkung ist endlich gefallen und nun braucht es andere Raumaufteilungen. Hiess es bis anhin, Mädchen und Jungen getrennt zu halten, muss nun die strikte Geschlechtertrennung aufgehoben werden, damit Mutter, Vater, Tochter und Sohn im selben Zimmer schlafen können. Da sollen keine Pritschen mehr stehen und deswegen wird 1955 ein preislich attraktives und modernes Bett entworfen. Überhaupt wird nun versucht, etwas Einheitlichkeit in den Verband zu bringen und so erarbeitet man 1959 zum ersten Mal nationale Richtpreise für die Verpflegung und macht Menüvorschläge. Längst ist die Bewegung von einer Jugendorganisation, die die Selbsthilfe grossschreibt und von jungen Leuten vorangetrieben wird, zu einem Dienstleistungsunternehmen mit einem hohen Professionalisierungsgrad herangewachsen. Das zeigt sich auch in der Sprache: Man stellt weniger das Miteinander in den Vordergrund als das Reden über die Jugend. Im Geschäftsbericht von 1959 meint der Vorstand: «Es nützt nichts, unsere heutige Jugend zu kritisieren, über ihren Niedergang zu klagen und unsere ‘gute, alte Zeit’ zu verherrlichen und zurückzuwünschen. (…) Mit unserer heutigen Jugend dürfen und müssen wir gehen, denn ihr wollen wir in ihrer Entwicklung helfen.»[10]

Die erste Jugendherberge-Bewegung ab 1909 in Deutschland, war keine unabhängige Jugendbewegung, sondern das Werk Erwachsener, dem damals 35-jährigen Lehrer Richard Schirrmann und dem gleichaltrigen Naturschützer Wilhelm Münker, mit einem pädagogischen Impetus. Im Gegensatz dazu kamen die Gründerinnen in der Schweiz aus der Basis. Viele von ihnen waren aber über Jahrzehnte hinweg aktiv und mussten ihre Rollen immer wieder neu definieren. Gertrud Honegger, die an der Gründungsversammlung in das Mädchenheim an der Gartenhofstrasse eingeladen hatte, ist bis zu ihrem Tod fast 40 Jahre lang im Vorstand sowohl des Zürcher Vereins als auch der Dachorganisation aktiv gewesen. Noch kurz vor ihrem tödlichen Autounfall nimmt sie an der internationalen Konferenz des IYHF teil. Ernst Schuler, der erste Präsident verfasst 1974 die Chronik zum 50-jährigen Bestehen. Der Präsident führt nach seiner Pensionierung 1965 halbtags das Vereinssekretariat und gibt 1969 die Zürcher Geschäftsleitung an Jakob «Jack» Kern weiter. Sieben Jahre zuvor wurde der 28-jährige Pfadfinder in den Vorstand gewählt, als es darum ging, diesen im Hinblick auf den Neubau der Jugendherberge Wollishofen zu vergrössern. 1973 steht der nächste Schritt an und er wird Geschäftsleiter der neu gegründeten Schweizerischen Stiftung für Sozialtourismus, die er bis zu seiner Pensionierung 1999 leitet. Auch er hat die Pionierzeit am Rande noch miterlebt und ist heute eine Legende.[11]  

 

 

[1] Brief von Gasthaus und Pension Heimeli an die Geschäftsstelle der Jugendherbergen Zürich, 20. Oktober 1952.

[2] Aus Zeit Nr. 37/ 9. September 1948. Abrufbar unter www.zeit.de/1948/37/notizen

[3] Deutschland, Schweiz, Tschechoslowakei, Polen, Niederlande, Norwegen, Dänemark, Grossbritannien, Irland, Frankreich und Belgien.

[4] Otto Binder, Jugendwandern und Jugendherbergen in der Schweiz, Begleitmaterial zu Wanderausstellung des Schweizerischen Bundes für Jugendherbergen, o.J., o. Seitenangaben.

[5] Hans Hunziker in 25 Jahre Schweizerischer Bund für Jugendherbergen, 1951, S. 11.

[6] Hans Hunziker in 25 Jahre Schweizerischer Bund für Jugendherbergen, 1951, S. 8f.

[7] Vgl. Antje Günther, Die Schweizer Jugendherbergen auf dem Weg in die Zukunft, Achtung, fertig, los, Diplomarbeit 1991, S. 13.

[8] Heinz Lüdi, Bundesobmann, 50 Jahre Verein für Jugendherbergen Zürich, S 4.

[9] Anton Grassl und Graham Heath, The Magic Triangle, A Short History of the World Youth Hostel Movement, 1982, S. 113-153, nach Antje Günther, Die Schweizer Jugendherbergen auf dem Weg in die Zukunft, Achtung, fertig, los, Diplomarbeit 1991, S. 14.

[10] Geschäftsbericht 1959, NN

[11] Vgl. blog.youthhostel.ch/er-lebt-seit-60-jahren-fuer-die-schweizer-jugendherbergen/

100 Jahre Schweizer Jugendherbergen

  • 1900 bis 1924: Vorgeschichte

    Freizeit und Geld haben viele Jugendliche kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert kaum. Gemeinschaftliches Wandern, Singen und Tanzen in der freien Natur bieten eine günstige Unterhaltungsmöglichkeit, unabhängig des Daseins von Erwachsenen.

  • 1924 bis 1932: Gründungsjahre

    Nach dem Ersten Weltkrieg begeistert sich die Jugend zunehmend für das Wandern unter ihresgleichen. Eltern und Lehrerschaft sind besorgt: Zerreissen die Familienbande, geht die Autorität verloren, lässt der Arbeitswille nach?

  • 1930 bis 1938: Wirtschaftskrise, geistige Landesverteidigung, Faschismus

    Die 1930er-Jahre sind geprägt von Arbeitslosigkeit, Angst vor einem Krieg und der geistigen Landesverteidigung. Trotzdem erweitern die Jugendherbergen ihr Netz und trotzen der wirtschaftlichen Realität, manchmal mit viel Glück, manchmal mit Wagemut.

  • 1939 bis 1947: Kriegszeit und Wiederaufbau

    Mit dem Kriegsausbruch im Sommer 1938 bricht bei den Jugendherbergen der Besucheransturm zusammen. Anstatt junge Gäste aus dem Ausland schlafen nun Soldaten im Aktivdienst in den Massenschlägen.

  • 1947 bis 1959: Erholung und Professionalisierung

    Nach dem Krieg erholt sich die Welt langsam wieder und der internationale Austausch wird erneut aufgenommen. Nach dem grossen Wachstum bis 1938 nimmt die Zahl der Jugendherbergen stetig ab.

  • 1960 bis 1970: Aufbruch der Jugend

    Die Sechzigerjahre sind geprägt vom wirtschaftlichen Aufschwung und mehr Freiheit suchender Jugendlicher. Die Jugendherbergen sehen sich erstmals einem Konkurrenzdruck ausgesetzt.

  • 1970 bis 1980: Backpacker*innen entdecken die Schweiz

    Nun können sich auch Junge Fernreisen leisten, alles wird günstiger, fast alle haben genügend Arbeit: Die Welt scheint allen offen zu stehen, vor allem den US-Boys und Canadian Girls.

  • 1980 bis 1990: Erforschung des Jugendtourismus

    Auf der Suche nach Sponsoring treten Imagefragen in den Vordergrund. Gehen die Jugendherbergen noch mit der Zeit und was halten die potenziellen Gäste von ihnen?

  • 1990 bis 1999: Umstrukturierung und Neuausrichtung

    Die Schweizer Jugendherbergen müssen sich in der globalisierten Welt zurechtfinden und sind dem Wettbewerb und neu sensibilisierten Gästen aus aller Welt ausgesetzt. Finanziell wird es eng.

  • 2000 bis 2010: Neupositionierung und Imagekorrektur

    Wer kennt die Schweizer Jugendherbergen nicht? Kaum jemand. Jeder dritte Schweizer, jede dritte Schweizerin weiss, von wem die Rede ist, wenn sie auf die «Jugis» angesprochen werden. Sie sind ein nationales Symbol.

  • 2010 bis 2019: Strategische Nachhaltigkeit

    Ab dem Jahr 2010 ernten die Jugendherbergen Sonne vom Dach. Im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie der Schweizer Jugendherbergen werden ab dem zweiten Jahrzehnt der 2000er-Jahre zahlreiche Projekte im Bereich erneuerbare Energien umgesetzt.

  • Ab 2020: Pandemiejahre und Neustart

    2020 / 2021 bringt die COVID-19-Pandemie die internationale Reisetätigkeit fast vollständig zum Erliegen. Kontakt-, Schul- und Gruppenreiseverbote innerhalb der Schweiz bringen die Schweizer Jugendherbergen an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit.