1970 bis 1980

Backpacker*innen entdecken die Schweiz

«1972 rechnet man mit einer guten Million dieser äusserlich so anderen Amerikaner. Ihr Standessymbol ist der hohe Rucksack in Schockfarben. Als Bibel und Kompass tragen sie das Buch Europe on 5$ a Day mit sich. Die Reisedevise dieser devisenarmen Horden aus dem ferneren Nordamerika: Möglichst viel Spass für möglichst wenig Geld.»[1]

So günstig wie möglich

Die Welt scheint allen offen zu stehen, vor allem den US-Boys und Canadian Girls, die mit ihren schmalen Budgets die Jugendherbergen fast überrennen.

Ab 1970 steigen die Übernachtungszahlen unerwartet rasch an. Grund dafür ist, dass junge Backpacker*innen aus aller Welt die Schweiz entdecken. Günstige Charterflüge und neue Jugendtarife machen es möglich, dass Jugendliche aus den USA sich ganz neue Reisedestinatio-nen leisten können. Gerne steigen sie in der modernen Jugendherberge Wollishofen ab, denn sie ist als erstes Etappenziel vom Flughafen Zürich aus gut erreichbar und eindeutig der «Brennpunkt». Jede Nacht würde sie «bis auf die letzte Matratze beschlafen», heisst es in einem Bericht der Fernsehsendung Rundschau im August 1972. Für 4 Franken und einen Mitgliederausweis würden die «Rucksack-Amerikaner» hier sogar im Keller übernachten. Der Ansturm ist derart gross, dass sie teils sogar im Bahnhof übernachten, bis wieder ein «Jugi-Bett» oder ein anderes preiswertes Bett frei wird. Weiterreisen wollen sie «in the Alps», nach Luzern und Interlaken zu den «Schnee-menschen», Bergsteigern und Skifahrern. Oder in Zürich bleiben. Dass sie nach eigenen Aussagen nicht mit Schweizerinnen und Schweizern sprechen, liege an der Sprache. Diese Aussagen stellen den Jugendherberge-Grundgedanken der Völkerverständigung auf den Kopf. Die meisten von ihnen hätten Freude, wenn sie jemanden aus ihrer Stadt in den USA treffen würden, verrät eine Mitarbeiterin der Studentenreisedienstes SSR der Kamera mit einem Lächeln auf den Stockzähnen.  

 

 

Bémont (1979)

Bild: SJH-Archiv

Jugendherberge Bémont (1979)

Bild: SJH-Archiv

Günstig reisen lässt sich ab 1972 auch mit dem neuen Interrail-Pass. All diese neuen und günstigen Transportmöglichkeiten, die auf Jugendliche zugeschnitten sind, sind mit dafür verantwortlich, dass die Jugendherbergen so international besucht werden wie nie zuvor. In den Siebzigern sind nur noch rund 30 Prozent der Schlafgelegenheiten in den Schweizer Jugendherbergen von Einheimischen besetzt. Es fallen nun auch die letzten Bastionen des Abstinenzgedankens der letzten 50 Jahre: Die ersten Raucherzimmer werden eingerichtet und der internationale Verband hebt 1978 das Alkoholverbot auf. Letzteres hat in der Schweiz zwar noch Bestand, denn für den Ausschank von Promille-Getränken braucht es eine Schanklizenz. Neben der fälligen Alkoholsteuer fürchten die Jugendherbergen vorderhand einen Imageschaden, der zum Entzug öffentlicher Gelder führen könnte. 

Die guten Belegungszahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei den Jugendherbergen dringender Handlungsbedarf besteht. An vielen Liegenschaften nagt der Zahn der Zeit, es gibt Renovations- oder sogar Neubaubedarf. Vor diesem Hintergrund wird eine ETH-Studie in Auftrag gegeben. Die Autor*innen kommen zum Schluss, dass eine Neuorganisation angegangen, die einzelnen regionalen Kreise reorganisiert und reduziert werden müssen. Die Planungsstudie hält aber auch fest, dass im Bereich Jugendtourismus ein grosses Bedürfnis nach nichtkommerziellen, preisgünstigen Unterkünften besteht. Etwas, was sich in den folgenden Jahren beweist. Nun geht es aber darum, das Vermögen zu sichern und die Liegenschaften vor nicht im Voraus einschätzbaren Entscheiden der Mitgliederversammlungen zu schützen. Die Lösung findet der Verein für Jugendherbergen Zürich mit der Errichtung der Schweizerischen Stiftung für Sozialtourismus 1973. Der Liegenschaftenbesitz geht in die neue Organisation über, sie verwaltet die Immobilien und das Vermögen daraus. Der Verein für Jugendherbergen Zürich kann sich nun vollkommen auf die Betriebsführung und die Zusammenarbeit mit den mittlerweile 13 regionalen Jugendherbergs-organisationen konzentrieren, Schritt für Schritt hat man für die Zukunft auch deren Fusion vor Augen. Am 11. Mai 1973 unterschreiben Jakob Kern und Willy Mersiovsky die Stiftungsurkunde im Namen des Vereins für Jugendherbergen Zürich und läuten damit ein neues Zeitalter ein.

 

 

Jugendherberge Sils im Domleschg

Bild: SJH-Archiv

100 Jahre Schweizer Jugendherbergen

  • 1900 bis 1924: Vorgeschichte

    Freizeit und Geld haben viele Jugendliche kurz nach der Wende zum 19. Jahrhundert kaum. Gemeinschaftliches Wandern, Singen und Tanzen in der freien Natur bieten eine günstige Unterhaltungsmöglichkeit, unabhängig des Daseins von Erwachsenen.

  • 1924 bis 1932: Gründungsjahre

    Nach dem Ersten Weltkrieg begeistert sich die Jugend zunehmend für das Wandern unter ihresgleichen. Eltern und Lehrerschaft sind besorgt: Zerreissen die Familienbande, geht die Autorität verloren, lässt der Arbeitswille nach?

  • 1930 bis 1938: Wirtschaftskrise, geistige Landesverteidigung, Faschismus

    Die 1930er-Jahre sind geprägt von Arbeitslosigkeit, Angst vor einem Krieg und der geistigen Landesverteidigung. Trotzdem erweitern die Jugendherbergen ihr Netz und trotzen der wirtschaftlichen Realität, manchmal mit viel Glück, manchmal mit Wagemut.

  • 1939 bis 1947: Kriegszeit und Wiederaufbau

    Mit dem Kriegsausbruch im Sommer 1938 bricht bei den Jugendherbergen der Besucheransturm zusammen. Anstatt junge Gäste aus dem Ausland schlafen nun Soldaten im Aktivdienst in den Massenschlägen.

  • 1947 bis 1959: Erholung und Professionalisierung

    Nach dem Krieg erholt sich die Welt langsam wieder und der internationale Austausch wird erneut aufgenommen. Nach dem grossen Wachstum bis 1938 nimmt die Zahl der Jugendherbergen stetig ab.

  • 1960 bis 1970: Aufbruch der Jugend

    Die Sechzigerjahre sind geprägt vom wirtschaftlichen Aufschwung und mehr Freiheit suchender Jugendlicher. Die Jugendherbergen sehen sich erstmals einem Konkurrenzdruck ausgesetzt.

  • 1970 bis 1980: Backpacker*innen entdecken die Schweiz

    Nun können sich auch Junge Fernreisen leisten, alles wird günstiger, fast alle haben genügend Arbeit: Die Welt scheint allen offen zu stehen, vor allem den US-Boys und Canadian Girls.

  • 1980 bis 1990: Erforschung des Jugendtourismus

    Auf der Suche nach Sponsoring treten Imagefragen in den Vordergrund. Gehen die Jugendherbergen noch mit der Zeit und was halten die potenziellen Gäste von ihnen?

  • 1990 bis 1999: Umstrukturierung und Neuausrichtung

    Die Schweizer Jugendherbergen müssen sich in der globalisierten Welt zurechtfinden und sind dem Wettbewerb und neu sensibilisierten Gästen aus aller Welt ausgesetzt. Finanziell wird es eng.

  • 2000 bis 2010: Neupositionierung und Imagekorrektur

    Wer kennt die Schweizer Jugendherbergen nicht? Kaum jemand. Jeder dritte Schweizer, jede dritte Schweizerin weiss, von wem die Rede ist, wenn sie auf die «Jugis» angesprochen werden. Sie sind ein nationales Symbol.

  • 2010 bis 2019: Strategische Nachhaltigkeit

    Ab dem Jahr 2010 ernten die Jugendherbergen Sonne vom Dach. Im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie der Schweizer Jugendherbergen werden ab dem zweiten Jahrzehnt der 2000er-Jahre zahlreiche Projekte im Bereich erneuerbare Energien umgesetzt.

  • Ab 2020: Pandemiejahre und Neustart

    2020 / 2021 bringt die COVID-19-Pandemie die internationale Reisetätigkeit fast vollständig zum Erliegen. Kontakt-, Schul- und Gruppenreiseverbote innerhalb der Schweiz bringen die Schweizer Jugendherbergen an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit.